Dienstag 30. Juli um 10.30 Uhr im Bowali Visitor Centre (Kakadu Nationalpark)

Es ist zuviel. Auch heute lassen wir eine geplante Wanderung sausen, die uns in 12 km über spektakuläre Sandsteinklippen geführt hätte. Wir brauchen Ruhe, eine Pause. Eva ist seit 2 Tagen krank. Starke Halsschmerzen und ein Ziehen in den Nieren. Und ich bin immer noch ganz benommen von den Ereignissen zuhause. So ist es für uns beiden eine Wohltat, im nur einfach auf der bezaubernden, ausladenden und überdachten Holzveranda des Bowali Besucherzentrums zu sitzen, dass reichlich Informationen zum Kakadu Nationalpark bietet. Die Atmosphäre des Ortes beruhigt uns ein wenig.
Dieser Kakadu Nationalpark ist wirklich ein einzigartiges Naturwunder mit vielerlei Landschaftsarten. Angefangen von steilen und schroffen Sandsteingebirgen im Südosten, über ein breites System von Flussläufen, die sich im Norden in den Ozean ergießen, findet man je nach Jahreszeit, also Trocken- oder Regenzeit, größere Flächen von trockener Grasssavanne, sumpfigen Schwemmgebieten mit tausenden von Wasservögeln, üppige Regenwald an den Flussufern, oder von Mangrovenbäumen gesäumte Sandküsten. Ein abwechslungsreicher Mix an Natur wird einem da geboten, in den wir gestern auf 3 Wanderungen reinschnupperten. Am Vormittag genossen wir von einer ausladenden Aussichtsplattform bei Mamukala das Spiel der Wasservögel auf einer sumpfigen Landschaft, von der wir zu einem kurzen Spaziergang aufbrachen, der uns durch trockenes Savannengebiet mit palmenartigen Pandanusbäumen führte, stets am Ufer des weiten Sumpfgebiets entlang. Die schon zu dieser Tageszeit flirrende Hitze steigerte sich noch bis zur Mittagszeit, in der wir eine 2-Stunden Erkundung einer sagenhaften Steinformation unternahmen, die sich auf dem Bardjilidji-Walk befindet. Der Weg führte zunächst am East Alligator River entlang, wo eine Warntafel auf die sich darin befindenden Salzwasserkrokodile hinwies. Mit dem nötigen Respekt durchwanderten wir die grüne Landschaft am Flussufer und waren nicht wenig erstaunt, wie schnell sich dieses üppige Grün in trockenes Gelbbraun verwandelte, als wir uns nur ein paar Meter vom Fluss entfernten. Ab da wand sich der Weg durch trockenes meterhohes Speergras, so genannt wegen seiner geraden und spitzen Halmen, und bizarre Felsformationen, deren Gestalt an verwitterte Monumente der Azteken erinnerte. Von Mythos durchwehte Orte betraten wir da und konnten uns sehr gut vorstellen, weshalb dieses Gebiet für die Aboriginies so wertvoll und bedeutend ist. Ein eigenartiger, archaischer Geist weht durch diese Landschaft! Mit beinahe angehaltenem Atem gingen wir weiter, stießen noch auf eine Höhle, die den Aboriginies Schutz vor den Wassermassen der Regenzeit geboten haben musste, und erreichten völlig durchschwitzt unser Mietauto. Wir füllten unsere Wasserreservoirs im Körper wieder auf, denn in solch feucht-heißer Hitze verbraucht ein Mensch pro Tag 4 bis 8 Liter.
Wenn man sich von Darwin aus dem Kakadu NP nähert, bewegt man sich von westen nach Osten auf diesem zu. Der Weg führt zunächst durch Grass und Baumsteppe, die sich in fruchtbares Schwemmgebiet verwandelt, wenn man sich den zahlreichen Flüssen nähert, die sich von Süden nach Norden in Ozean ergießen und der Namen West-East und South Alligator River an tausenden dort lebenden Salzwasserkrokodilen erinnern. Nachdem man dieses Flusssystem passiert hat, beginnen sich plötzlich aus der ebenen Landschaft steile Sandsteinformationen erheben, die sich an der Grenze zu Arnhemland befinden, das komplett unter Verwaltung der dort ansässigen Aboriginies steht und nur mit einer spezial Erlaubnis betreten werden darf. Grund für diese Restriktion sind die zahlreichen sich dort befindenden heiligen Ritualen und Begräbnisstätten, die kein Weiser und nur ausgewählte Aboriginies aufsuchen dürfen. Die westlichen Ausläufer des Gebirges jedoch wurden der Allgemeinheit zugänglich gemacht und dafür sind alle Touristen den Ureinwohnern zur Dank verpflichtet, denn hier befinden sich die großartigen Felsenmalereien, die von Urzeiten bis zum heutigen Tag von Aboriginies gefertigt wurden. Es handelt sich hierbei um eine in der Welt einzigartige Kollektion steinzeitlicher Kunst. Und diese bewunderten wir auf unseren dritten Wanderung, die uns gestern Nachmittag durch die Felsenformationen  des Ortes Ubirr führte.
Nun möchte ich zum ersten mal in diesem Reisetagebuch eintauchen in die Kultur der Aboriginies, und auch etwas über die Geschichte dieses bis vor 250 Jahren noch ungestörten Steinzeitvolkes berichten. Die Wissenschaft geht davon aus, dass die Besiedelung Australiens vor 40 000, wenn nicht sogar vor 50 000 Jahren erfolgte. Damals herrschte noch die Eiszeit über die Erde und weit mehr Wasser als heutzutage war in der Eiskappen an den Polen gefangen. Der Meeresspiegel lag bis zu 150 Metern tiefer als heute, Australien hatte eine Landverbindung zu Papua Neu Guinea und die indonesischen Inseln lagen verbunden mit dem asiatischen Kontinent über den Meeresspiegel. Mit schmalen Einbaumbooten sollen die Ureinwohner an die nördlichen Ufern des Kontinents gelangt sein. Forscher datieren den ersten Beweis menschlicher Besitznahme Australiens  50 000 v. Ch. anhand der im Kakadu NP aufgefundenen Steinwerkzeugen. Die ersten Felsmalereien sind mit einiger Sicherheit vor über 50000 Jahren entstanden; sie zählen zu den ältesten in der Menschheitsgeschichte! Zu dieser Zeit präsentierte sich die Natur des Kakadu NP wesentlich andersartig als heutzutage. Wegen der damals weitentfernten Meeresküste bedeckte ausgetrocknete und karge Vegetation die Landschaft, was auf den ersten steinzeitli8chen Felsenmalereien wiederzufinden ist. Sogar einige heute schon ausgestorbenen Tiere wie der tasmanische Tiger sind auf den Malereien zu finden. Um 6 000 v. Ch. hatte die zuvor erfolgte Wärmeperiode den Meeresspiegel auf das heutige Niveau anwachsen lassen und somit die Vegetation dramatisch verändert. Dieses langsam sich vollziehende Ereignis wird ebenfalls auf den Felsmalereien eindrucksvoll dargestellt.
Was mich am meisten beeindruckt, ist die Dokumentation der Ankunft der ersten weißen Siedler in Australien. Auf einigen knapp 200 Jahre alten Zeichnungen finden sich Männer mit Händen in ihren – für die Aboriginies unbekannten – Hosen. Pfeifenraucher und Segelschiffe sind weitere Attribute der weißen Männer, die sich auf den Felsenmalereien wiederfinden.  Bis in die heutige Zeit hinein werden die Felswände bemalt, die sich meist geschützt unter Felsvorsprüngen befinden und somit gleichfalls einen Schutzort für die Familienclans darstellten. Mit erstaunten Augen durchstreiften wir das Gelände bei Ubirr, das einem ausdrucksvoll eine kontinuierliche Geschichte der eigentlichen Australier.
Neben dem Festhalten der Vegetation und der Tierwelt, von denen hauptsächlich die zur Nahrung dienenden gemalt wurden kommen, findet man noch zahlreiche Darstellungen alter Geschichten, die schon zu Zeit der Urväter von Generation zur Generation durch Erzählungen weitergegeben wurden und in denen die Regeln und Gesetze , in denen die jungen Stammesmitglieder eingeführt werden müssen, tradiert werden. Ein Mythos, der als einer der wenigen weit über Australien verbreitet ist – jedes Volk hat seine eigenen Geschichten – erzählt von der Regenbogenschlange. Dieses riesige Tier, das sich in den heutigen Zeiten nur in der Gestalt des Regebogens zeigt, durchstreifte in den Urzeiten die Erde und hinterließ verursacht durch die Schwere seines Körpers die heutigen Flussläufen Australiens. Einst wurde es von den Schreien und Weinen eines Kindes angelockt, das nach mehr von süßen Früchten verlangte. Die Schlange verschlang das Kind und die Mehrheit des Familienclans. Ich denke, dass sich jedes Kind, nachdem es diese Geschichte erzählt bekommen hat, zweimal überlegt, ob es noch mal zu laut oder zu lange nach Süßigkeiten schreien soll.
Diese Geschichte ist auch an einer der Felsenmalereien von Ubirr zu sehen, leider nur noch schemenhaft, da Zeit und Wetter den Bildern ganz schön zusetzen. Aber das kümmert die Aboriginies wenig, denn das Alter der Bilder ist nicht wichtig. Von besonderen Bedeutung ist vielmehr der Akt des Malens, nicht das Gemälde selbst. Denn Hier und Jetzt wird große Bedeutung zugemessen. So wurde schon viele unermesslich wertvolle alte Zeichnungen einfach übermalt. Uns an Besitztum und Reichtum gewohntem Europäern sträuben sich dabei die Haare. Aber was zählt schon Haben für ein Naturvolk, dessen größtes Besitzt sein Wissen darstellt, das Wissen, wie man in dieser wunderschönen Welt überlebt. Kann man das essen? Wie bereite ich dies zu? Wo finde ich jenes? Die australische Natur stellt für die Aboriginies einen riesigen Supermarkt dar, aus dem sich jeder kostenlos bedienen kann. Nichts muss auf den Wanderungen durch die Gegend mitgenommen werden, denn alles zum Überleben notwendige ist zu jeder Zeit vorhanden. “ Zieh deine Kleider aus und gehe nackt nur mit diesem Speer bewaffnet in die Wildnis hinaus!” befahl mir ein Ureinwohner in einem Kunstladen in Cairns mit lachenden Augen, wissend, dass ich hilflos wie all die weißen Abenteurer zuvor elendig zu Grunde gehen würde. Für die Aboriginies aber gibt es in der Wüste und in dem Regenwald alles im Überfluss. Man muss nichts horten, besitzen. Jeder kann sich alles nehmen. Kein Wunder, dass die weißen Siedler sich so leicht des Landes bemächtigen konnten, da sie auf so wenig schwarzen Widerstand stießen.

So, nun höre ich aber auf zu schreiben, denn sonst wird dieser Eintrag seitenlang. Das Fass der Aboriginiekultur ist aber geöffnet.

P.S. Auch wir können in der Wildnis überleben bewaffnet mit einem Arsenal von Dosenfutter.